Stellen Sie sich vor, über Ihren Grund, durch Ihren Wald, an Ihrem Haus vorbei oder neben Ihrer Ortschaft wird eine 110 KV Leitung geplant. Es wurde geprüft (heißt es seitens der Projektbetreiber und der Politik), ob eine Errichtung als Freileitung (die Kabeln auf großen Strommasten) oder eine Erdleitung vernünftiger wäre. Das Ergebnis stellt sich klar dar: Es geht nur eine Freileitung.
Sie und andere Betroffene informieren sich, suchen das Gespräch mit den Betreibern des Projekts, mit politischen Verantwortungsträger_innen, wollen einfach nur wissen: warum und wie genau? Ganz wichtig: Sie sind nicht grundsätzlich dagegen – nach dem Motto „ja schon, aber nicht bei mir“. Das ehrt Sie.
Die Kommunikation will aber nicht in Gang kommen. Es wird informiert, aber kaum kommuniziert. Sie werden misstrauisch. Weitere Betroffene klinken sich ein, eine Bürgerinitiative bildet sich. Sie fangen an, Fakten zu recherchieren. Und sie werden den vorgebrachten Argumenten gegenüber noch misstrauischer. Das Interesse und die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger wächst und um Evidenz zu erhalten, geben Sie ein Gutachten bei international renommierten Experten (auf eigene Kosten) in Auftrag, um die Freileitung mit dem Erdkabel zu vergleichen. Auch das ehrt Sie, denn es könnte sich ja herausstellen, dass die Freileitung vernünftiger ist. Tut es aber nicht, denn dieses Gutachten kommt zu einem vollkommen anderen Ergebnis als die Gutachten der Projektbetreiber.
Dazu mehr in meinem letzten Blogpost: 110 KV Leitungen gehören unter die Erde
Perspektivenwechsel
Stellen Sie sich vor, Sie sind Professor, Sachbuchautor und ein angesehener Experte für Kabeltechnik. Sie werden von einer österreichischen Bürgerinitiative beauftragt, ein Gutachten zu einem konkreten Projekt zu erstellen. Alle Achtung, denken Sie, die gehen das wirklich seriös an. Sie holen sich einen ebenso renommierten Experten zum Thema Netzplanung und -berechnung dazu. Und Sie holen sich über weitere Sachverständige die notwendige Expertise, was die konkreten Gegebenheiten vor Ort angeht. Auf den Punkt gebracht: Sie kommen – anders als die Gutachter im Auftrag der österreichischen Energiewirtschaft bzw. der (oberösterreichischen) Landespolitik zum Ergebnis, die Erdleitung wäre im konkreten Fall vernünftiger. So etwas soll vorkommen.
Schauplatzwechsel
Völlig unabhängig davon, sind Sie – immer noch als der international renommierte Experte, der Sie sind – zu einem Fachkongress eingeladen, veranstaltet von der Technischen Universität Graz. Das Prozedere ist international etabliert: Sie haben Ihren Beitrag eingereicht, und er wurde approbiert. Sie und Ihr Co-Referent (jener Experte für Netzplanung und -berechnung, der auch im Gutachten für die Bürgerinitiative mit an Bord war) stehen im Programm, und Sie freuen sich auf den wissenschaftlichen Austausch. Doch daraus wird nichts, denn Sie erhalten folgende E-Mail:
Sehr geehrter Herr Professor,
bei Endabstimmung des Programmes stellte sich heraus, dass Ihr Beitrag inhaltlich in völligem Gegensatz zu einem anderen Beitrag eines Fach-Universitätsprofessors gestanden wäre. Ein weiterer Fach-Universitätsprofessor stellte ihre Schlussfolgerungen völlig in Frage. Um eine unausweichliche Eskalation beim Symposium zu vermeiden, nehmen wir beide Beiträge nicht in das endgültige Programm auf.
Wir ersuchen um Ihr Verständnis und bleiben mit freundlichen Grüßen
Echt jetzt?
Nun liegen meine Jahre an der BOKU Wien, an der University of British Columbia in Vancouver und an der University of Chicago schon ein paar Jahre zurück. Ich habe mich nach meinem Abschluss auch ohne Umwege in die Wirtschaft begeben – war also nie wissenschaftlich tägig. Aber das habe ich ganz anders in Erinnerung. Geht es auf wissenschaftlichen Kongressen nicht genau darum? Um das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Meinungen, um den wissenschaftlichen Diskurs?
Und dann wird ein internationaler Experte mit seinem Beitrag ausgeladen, um „eine Eskalation zu vermeiden“? Ich kann mir den Grad der Verblüffung, den diese E-Mail bei den beiden Experten ausgelöst haben muss, durchaus vorstellen.
Einer der Gründe dafür ist, dass ernstzunehmende wissenschaftliche Kongresse – zumal von und an einer wissenschaftlichen Hochschule abgehalten – kontroverse Beiträge und deren Diskussion nicht ausschließen, sondern als essentiell wichtig für den Fortschritt der Wissenschaft geradezu begrüßen.
Zudem sind die beiden Herren wohl kaum als die Rabauken bekannt, die es bei einer wissenschaftlichen Diskussion zu einer "unausweichlichen Eskalation" kommen lassen. Besagtem Professor ist so eine Eskalation mit seinen rund 250 Publikationen und fast ebenso vielen Kongressteilnahmen noch nie passiert. Auch hat er selbst schon entsprechende Tagungen geleitet (unter anderem auch in Wien).
Zudem ist beiden auch kaum mangelnde Sachkunde vorzuwerfen: Der eine ist auf seinem Gebiet der Netzplanung und -berechnung international führend, und dem Professor wird für den Bereich der Kabeltechnik Ähnliches nachgesagt.
Und von welcher Qualität und Qualifikation wäre denn ein Tagungs-/Diskussionsleiter, auf dass er es bei einer technischen Sachdiskussion zu einer „unausweichlichen Eskalation“ kommen ließe? Man fragt sich, ob diese Begründung eher die beiden Autoren - oder womöglich den Diskussionsleiter diffamiert.
Jedenfalls wurde der von den beiden Experten eingereichte Beitrag für den Kongress von zwei anerkannten Gutachtern der TU Graz positiv bewertet, was zur Annahme des Beitrags führte. Auch lag bei Redaktionsschluss (20.12.2019) keinerlei Beitrag vor, der sich mit demselben Thema auseinandersetzte.
Erstaunlich ist dann, wenn nach Redaktionsschluss ein „völlig gegensätzlicher“ Beitrag eines „Fach-Universitätsprofessors“ auftaucht (sozusagen aus dem Nichts?), und zudem ein zweiter „Fach-Universitätsprofessor“ Schlussfolgerungen des Beitrags der beiden deutschen Experten „völlig in Frage“ stellt.
Was jetzt?
Damit die beiden Autoren als Vertreter eines innovativen Systemvorschlags die Sachdiskussion weiterführen und zudem die Fragen von Fachkollegen, aber auch von Interessierten im Bereich der Medien und Politik beantworten können, haben sie darum ersucht, ihnen den besagten Beitrag des "Fach-Universitätsprofessors" zur Verfügung zu stellen.
Ich bin nicht sicher, hoffe aber, dass diese unwissenschaftliche Vorgehensweise – ähnlich wurde zu Zeiten des Galileo Galilei verfahren – nicht zu einer nachhaltigen Beschädigung des wissenschaftlichen Rufs der Technischen Universität Graz führen wird.
Jedenfalls habe ich dazu den Rektor der Technischen Universität Graz angerufen, und das Ganze mit ihm besprochen. Er war nicht in die Angelegenheit involviert und hat mir zugesagt, sich zu informieren und mich zurückzurufen.
Hat er auch getan, aber herausgekommen ist nichts. Ganz ehrlich – ich bin sehr unglücklich und sauer. Ich habe das mit Journalisten besprochen (Profil | Ausgabe Nr. 7 vom 09.02.2020)
Meine besten Wünsche gelten dennoch dem "Symposium Energieinnovation" für einen ruhigen Verlauf.
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